Donnerstag, 19. Juli 2012

Mein erstes Buch


Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, tauche ich in die Geschichte eines Außenseiters ein. Als Sohn protestantischer Eltern wuchs ich in einem oberschwäbischen Kuhkaff auf. Und dabei war ich noch nicht einmal getauft. Deshalb schnitten mich manche Lehrer und Schüler wie einen Aussätzigen. Scheitholz für die Hölle sahen sie in mir - einen wertlosen „Reingeschmeckten“, einen Jungen, der noch nicht einmal wusste, wie man artig Rosenkränze betete. Trotzdem faszinierten mich die katholischen Kulte und ich mogelte mich, so oft es ging, mit den Recht-gläubigen in die Kirche. Zwei Dinge gab es da für mich zu entdecken: Zum einen den alten Bischoff, der zur Messe Bachs Orgelfugen spielte; zum anderen Gesangbücher mit Goldschnitt. Wenn man sie aufklappte, legten sich die Seiten stoßweise übereinander und bildeten zwischen Buchdeckel und Aufschlag ein stufenartiges Muster. Neugierig strich ich mit meinen Fingern über die Papieroberfläche, die in verschiedenen Goldtönen schimmerte. Die Notenlinien und Noten, der altdeutsche Textdruck, das raschelnde Geräusch beim Umblättern – all das machte mich neugierig. Ich erahnte Geheimnisse, die einem  Protestanten wohl niemals zugänglich sein würden. Das war der Tag, an dem Bücher mich gefangen nahmen.

   Gedruckte Worte zogen mich seitdem magisch an. Aber nicht als Lesestoff. Nein, zunächst waren Bücher Gegenstände zum Anfassen und Bewundern. Welche Geschichten darin geschrieben standen, interessierte mich noch kaum. Allein die Schrift- und Zeichenprägungen der Einbände und die Präzision der Faden-heftung regten meine Fantasie an. Das galt besonders bei den Gesangbüchern aus der Kirche. Ich fragte mich, durch wie viele Hände sie wohl gegangen waren und  was die Leute beim Singen und Lesen empfunden haben mochten. Gesangbücher waren für mich Zeugnisse der Vergangenheit, an deren Texten sich die Seelen etlicher Menschen abgerieben hatten. Wenn ich die kalten Blätter und die Einbandgravuren ertastete; wenn ich mit meinen Fingern über den Vorderschnitt strich, war das, als ob ich den Staub von tausend Seelen berührte. Staub, der sich im Lauf der Jahre zwischen den Buchdeckeln verfangen hatte und einen historischen Atem verströmte. Jeder Fleck, jeder Knick, jeder Riss im Papier schien mir von Kirchgängern erzählen zu wollen.  Bücher waren etwas Erhabenes und Schönes, das auch ohne Worte zu faszinieren vermochte. Ich schaute sie gerne an und blätterte darin, besonders wenn es sich um schöne, gebundene Ausgaben handelte. Sie waren für mich Kunstobjekte, deren Wert sich aus einer Mischung aus äußerer Ästhetik und inneren Geheimnissen speiste. Deshalb bewunderte ich Buchbinder-handwerk, Druckkunst und Schriftstellerei gleichermaßen. Meine Lust am Schreiben hatte damals noch wenig mit einem inneren Erzähldrang zu tun. Vielmehr kam mir es auf das fertige Werk an. Ich wollte etwas in den Händen halten, das meinen Namen trug und wie ein Buch aussah: Dieser Antrieb, eine Mischung aus Eitelkeit und Liebhaberei, brachte einen Impuls in mein Leben, der mich seither immer wieder bestimmt hat.  

Schreiben wollte ich. Aber was sollte ein kleiner Junge schon Schreiben? Wen interessierte, was ein Kind zu sagen hatte? Und wie sollte ich meine Gedanken überhaupt in Worte fassen? An einem regnerischen Sommertag gegen Ende der Siebziger Jahre, überkam es mich schließlich: Ich nahm mir mehrere Blätter weißen Papiers, faltete sie mittig und kratzte mit dem Daumennagel über die Faltkanten, damit ich die Blätter reißen konnte. So entstanden aus sperrigen  DIN A 4 Bögen kleinere DIN A 5 Seiten, die schon mehr an typische Buchformate erinnerten. Mit dem Blattstapel setzte ich mich an den Wohnzimmertisch, nah bei meiner Mutter. Sie legte eine Zeichenunterlage an meinen Platz und ich begann, Texte aus der Bibel abzuschreiben - in Druckschrift versteht sich. Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort, Satz für Satz beschrieb ich die Blätter, immer sorgfältig darauf bedacht, dass die Ränder gerade waren und die Zeilenabstände stimmten. Ganz nebenbei lernte ich dabei die Sprüche Salomos kennen. Aus dem Religionsunterricht kannte ich Bibeldrucke, bei denen Anfangsbuchstaben von Arabesken umrankt waren. Natürlich versuchte ich das nachzuahmen. So sprossen Blätter und Blüten auf dem Papier, die ich mit Buntstiften bemalte und mit Tinte nachzeichnete. Keine meiner Seiten befriedigte mich. Krumm und unvollkommen tanzten meine Buchstaben übers Blatt, die Zeilenabstände schwankten und an manchen Absätzen schien das ganze Textbild verschoben.

Meine Mutter beobachtete mich aufmerksam. Manchmal schüttelte sie dabei lächelnd den Kopf. Sie saß vor ihrer Nähmaschine und ließ Stoff unter dem Nähfuß durchrattern. Wie so oft schneiderte sie Faschingskostüme für die Narrenzunft. Das brachte ihr ein wenig Kleingeld ein, um die Rechnungen zu bezahlen. Bis heute fühle ich mich in meine Kindheit zurückversetzt, wenn ich Nähmaschinen höre. Dann sehe ich mich am Tisch sitzen, eine Tube Uhu in der Hand, und gerissene DIN A 5 Blätter verkleben. Mein Buchprojekt nahm Konturen an - ich war stolz. Geschrieben hatte ich zwar wenig und mir war kaum daran gelegen, eigene Gedanken zu fassen. Aber ich hatte mich mit einer Sache beschäftigt, die mich aufrichtig faszinierte. Bücher waren etwas Wundervolles! Am Ende presste ich meine Seiten zwischen Pappdeckel, trug eine dicke Klebeschicht am Buchrücken auf und tunkte drei Wollfäden in den Kleber. Das war meine Version einer „Fadenheftung“ - eine kindlich charmante Version, die manchen Erwachsenen in der Siedlung gut gefiel. Deshalb gelang es mir am Ende sogar, mein Werk an einen alten Mann aus der Nachbarschaft zu verkaufen. An den Preis kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich nehme aber an, dass es für ein „Zehnereis“ gereicht hat - zehn Pfennige waren damals nämlich eine übliche Bezahlung für Kinder. Was aus meinem Erstling geworden ist, weiß ich nicht. Aber wahrscheinlich existiert das Büchlein ebenso lange nicht mehr wie mein Käufer.

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