Freitag, 15. Februar 2013

Revolution


Schon Musik schien ihnen gefährlich.

Sie kontrollierten die Worte,

den Klang und die Gedanken.

Nur wenige ahnten etwas davon.

Das Leben ging weiter, als wäre

nichts geschehen. Wären

wir aufmerksamer gewesen, hätten

wir das Schlimmste verhindert.

Aber wir schliefen.



Sie schliefen nicht.

Sie ließen sich beschenken

und nahmen sich, was sie brauchten.

Als die Not kam, zeigten sie

mit den Fingern auf uns.

Den Kleinen raubten wir

das Letzte, die Großen

ließen wir gewähren.

Und wir schliefen.



Die Welt wurde kälter

und grauer. Dann stießen

sie uns in den Schmutz,

zu unseren Geschwistern.

Wir erwachten geschlagen, während

ihre Knechte uns verhöhnten.

Scheinbar blieb uns keine Chance.

Ihre Macht wirkte lähmend -

aber wir waren viele.



Gier und Eitelkeit lullten sie ein.

Sie schwammen im Geld

und lenkten unsere Geschicke.

Nachts aber schliffen wir unsere

Klingen und schmiedeten Pläne.

Neue Anführer schwangen

sich empor und trieben die

Meute aufs Schlachtfeld.

Ihre Opfer schliefen.

 

Wir traten ans Licht und

löschten Lichter. Die Furcht

der Anderen kam zu spät.

Sie krochen auf Knien,

sie winselten um Gnade,

aber alles, was sie getan

hatten, fiel auf sie zurück:

Augen um Auge,

Zahn um Zahn.



Unseren Anführern gefiel

ihre neue Macht. Schon Musik

schien ihnen gefährlich.

Sie kontrollierten die Worte,

den Klang und die Gedanken.

Nur wenige ahnten etwas

davon. Wir schliefen wieder

und ließen sie gewähren.

Sie aber schliefen nicht.   

Dienstag, 29. Januar 2013

Ein Bach am Meer


Ich zeichne eine Note in den Sand.
Aus der Spelunke am Hafen dringt Musik.
Sie kommt stoßweise, während ein Orkan
an den Straßenlaternen rüttelt.
Bilder von einem Barpianisten wehen 
herüber. Ich sehe, wie er die Tasten
streichelt. Sein letztes Schifferliedchen
ist unter den wohlwollenden Blicken
der Seemänner verklungen. Jetzt fließt 
eine zarte Melodie aus seinen Fingern;
eine Melodie, die wie Wasser in den
Resonanzboden tropft. Die Harmonien
passen nicht zur Umgebung:
Sie entstammen einer längst vergessenen
Epoche und martern das Publikum
mit Dissonanzen. Die Klänge rauschen
von der Spelunke hinab ans Meer.

Ich erkenne die Noten. 
Sie schweben über einem Orgelpunkt
aus bösartigem Gemurmel. Stimmen 
schwellen an, gewinnen an Stärke und 
verdrängen die Musik. Unheil verkündend
flackern die Hafenlaternen,während 
Regenduft die Luft schwängert. 
Aprupt reißt die Melodie ab. 
Der Wind trägt ein Poltern
und Krachen zu mir. Glas zersplittert.
Ein Schmerzensschrei gellt
durch den Hafen. Augen funkeln  
blutrünstig durch die Rauchschwaden  
der Spelunke. Unter schallendem 
Gelächter stolpert der Pianist
durch die Tür. Kopfschüttelnd 
wankt er über den Bordstein und klopft 
sich den Schmutz aus den Klamotten.

Er hat gelernt, dass ein Bach nicht ans
Meer gehört.

Fahrstuhlimpressionen


Mit einem rollenden Geräusch gleitet die Schiebetür beiseite. Schweigend sehe ich mich am Eingang stehen. Mein Spiegelbild zeigt einen unrasierten und schäbigen Menschen - ganz anders als die Mustertypen aus dem Fernsehen. Fettschlieren verunstalten den Spiegel, davor prangt ein Balken, an dem man sich festhalten kann. Spiegel und Balken erinnern an die Ausstattung eines Ballettsaals. Ich quetsche mich in die Enge und wende mich der Tastenleiste zu. Meine Fahrt führt in den zehnten Stock, nach oben, zu den besseren Kreisen. Während ich gegen die Wand lehne, höre ich ein schmatzendes Geräusch, als ob der Fahrstuhl mich verschlingen wollte. Meine Schuhsohlen kleben am Linoleumboden - wahrscheinlich hat vor kurzem jemand eine Flasche Cola darauf verschüttet.

Die Schiebetür schließt sich, und mir steigt der Geruch von Schweiß und Zucker in die Nase. Säuselnde Entspannungsmusik schwappt in die Stille, untermalt von einer sonoren Herrenstimme, die mich zum Abschluss einer Privatversicherung drängt. Gleich nachher soll ich meinen Kundenberater darauf ansprechen. „Handeln Sie jetzt! Sichern Sie sich eine sorglose Zukunft!“ - Mir läuft ein Schauder über den Rücken, während auf der Stockwerkanzeige eine grüne Vier aufleuchtet. Die Fliehkraft wirbelt meine Magensäfte durcheinander und mir ist, als ob ich in die Tiefe stürzte. Der Fahrstuhl bremst ruckartig ab. Einen Moment lang wird mir schwindlig. Schließlich springt das Display auf Stockwerk fünf. Ich kusche mich lautlos in die Ecke und sinne nach, was mich hierher geführt hat – vielleicht der Wahnsinn?

Die Schiebetür ruckelt schleifend zur Seite. Ein älterer Herr steht am Eingang. Er stützt sich auf seinen Spazierstock und starrt mich verkniffen an. Plötzlich fühle ich mich fehl am Platze. Eine innere Stimme rät mir, den Fahrstuhl zu verlassen. „Dem Alter gebührt der Vortritt“, habe ich als Kind gelernt, doch seit den Unworten „Rentnerschwemme“ und „sozialverträgliches Frühableben“ scheint das nicht mehr zu gelten. Dem Zeitgeist zum Trotz, zwingt mich meine Erziehung weiter in die Ecke. Ich ziehe mein Genick ein und lächle dem Alten ins Gesicht. Statt meine Höflichkeit zu erwidern, blickt er ungerührt durch mich hindurch - mit dem Charme eines Boxerhunds. Nun ja, denke ich bei mir, wenigstens hat er seine Lektionen gelernt: Er geht mit messerscharfen Ellbogen durchs Leben.

Als sich die Schiebetür wieder schließt, drängen sich fünf Personen im Aufzug - der Boxergreis, eine dreiköpfige Familie und ich. Zuerst haben sich Vater und Mutter noch angeregt unterhalten, aber seitdem wir im Pferch stehen, schweigen alle.  Von oben betrachtet sind unsere Köpfe wie auf einem Spielwürfel angeordnet: Jeder von uns strebt nach Raum, und jeder wirkt verlegen. Etwas muss dran sein, an der Aura des Menschen. Die Enge verbreitet eine Spannung, die beklemmend wirkt. Mir ist, als stieße jemand mit einem Messer durch meinen Schutzschirm. Die aufgezwungene Nähe macht mich nervös und zwingt meinen Blick auf den Linoleumboden zurück. In Gedanken zähle  ich die Sekunden bis nach oben. Den anderen Fahrstuhlgästen ergeht es ähnlich- sie schweigen und sie schwitzen.

Endlich springt die Tür auf. Tageslicht flutet die Kabine. Wir blicken in einen Sarkophag aus Glas und Stahl. Niemand, der hier verkehrt, tut das freiwillig. Aber die Herrschaften im Nadelstreifen lenken die Geschicke der Welt, und wer nicht untergehen will, muss gelegentlich an ihre Tür klopfen. Jedenfalls machen sie uns das glauben. Wir zweifeln nicht an ihrer Wahrheit, weil sie Experten sind und wir nur Bittsteller und Schuldner. Die Fahrt im Aufzug erscheint mir wie ein Gleichnis: Je weiter es nach oben geht, umso enger wird der Raum und umso beklemmender die Atmosphäre. Wenn nämlich alle dasselbe Ziel haben, kann keiner mehr dort ankommen. Mit diesen Gedanken wende ich mich ab und trete zurück in den Fahrstuhl. Als sich die Schiebetür wieder öffnet, drängt sich eine Putzfrau an mir vorbei.

Donnerstag, 19. Juli 2012

Mein erstes Buch


Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, tauche ich in die Geschichte eines Außenseiters ein. Als Sohn protestantischer Eltern wuchs ich in einem oberschwäbischen Kuhkaff auf. Und dabei war ich noch nicht einmal getauft. Deshalb schnitten mich manche Lehrer und Schüler wie einen Aussätzigen. Scheitholz für die Hölle sahen sie in mir - einen wertlosen „Reingeschmeckten“, einen Jungen, der noch nicht einmal wusste, wie man artig Rosenkränze betete. Trotzdem faszinierten mich die katholischen Kulte und ich mogelte mich, so oft es ging, mit den Recht-gläubigen in die Kirche. Zwei Dinge gab es da für mich zu entdecken: Zum einen den alten Bischoff, der zur Messe Bachs Orgelfugen spielte; zum anderen Gesangbücher mit Goldschnitt. Wenn man sie aufklappte, legten sich die Seiten stoßweise übereinander und bildeten zwischen Buchdeckel und Aufschlag ein stufenartiges Muster. Neugierig strich ich mit meinen Fingern über die Papieroberfläche, die in verschiedenen Goldtönen schimmerte. Die Notenlinien und Noten, der altdeutsche Textdruck, das raschelnde Geräusch beim Umblättern – all das machte mich neugierig. Ich erahnte Geheimnisse, die einem  Protestanten wohl niemals zugänglich sein würden. Das war der Tag, an dem Bücher mich gefangen nahmen.

   Gedruckte Worte zogen mich seitdem magisch an. Aber nicht als Lesestoff. Nein, zunächst waren Bücher Gegenstände zum Anfassen und Bewundern. Welche Geschichten darin geschrieben standen, interessierte mich noch kaum. Allein die Schrift- und Zeichenprägungen der Einbände und die Präzision der Faden-heftung regten meine Fantasie an. Das galt besonders bei den Gesangbüchern aus der Kirche. Ich fragte mich, durch wie viele Hände sie wohl gegangen waren und  was die Leute beim Singen und Lesen empfunden haben mochten. Gesangbücher waren für mich Zeugnisse der Vergangenheit, an deren Texten sich die Seelen etlicher Menschen abgerieben hatten. Wenn ich die kalten Blätter und die Einbandgravuren ertastete; wenn ich mit meinen Fingern über den Vorderschnitt strich, war das, als ob ich den Staub von tausend Seelen berührte. Staub, der sich im Lauf der Jahre zwischen den Buchdeckeln verfangen hatte und einen historischen Atem verströmte. Jeder Fleck, jeder Knick, jeder Riss im Papier schien mir von Kirchgängern erzählen zu wollen.  Bücher waren etwas Erhabenes und Schönes, das auch ohne Worte zu faszinieren vermochte. Ich schaute sie gerne an und blätterte darin, besonders wenn es sich um schöne, gebundene Ausgaben handelte. Sie waren für mich Kunstobjekte, deren Wert sich aus einer Mischung aus äußerer Ästhetik und inneren Geheimnissen speiste. Deshalb bewunderte ich Buchbinder-handwerk, Druckkunst und Schriftstellerei gleichermaßen. Meine Lust am Schreiben hatte damals noch wenig mit einem inneren Erzähldrang zu tun. Vielmehr kam mir es auf das fertige Werk an. Ich wollte etwas in den Händen halten, das meinen Namen trug und wie ein Buch aussah: Dieser Antrieb, eine Mischung aus Eitelkeit und Liebhaberei, brachte einen Impuls in mein Leben, der mich seither immer wieder bestimmt hat.  

Schreiben wollte ich. Aber was sollte ein kleiner Junge schon Schreiben? Wen interessierte, was ein Kind zu sagen hatte? Und wie sollte ich meine Gedanken überhaupt in Worte fassen? An einem regnerischen Sommertag gegen Ende der Siebziger Jahre, überkam es mich schließlich: Ich nahm mir mehrere Blätter weißen Papiers, faltete sie mittig und kratzte mit dem Daumennagel über die Faltkanten, damit ich die Blätter reißen konnte. So entstanden aus sperrigen  DIN A 4 Bögen kleinere DIN A 5 Seiten, die schon mehr an typische Buchformate erinnerten. Mit dem Blattstapel setzte ich mich an den Wohnzimmertisch, nah bei meiner Mutter. Sie legte eine Zeichenunterlage an meinen Platz und ich begann, Texte aus der Bibel abzuschreiben - in Druckschrift versteht sich. Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort, Satz für Satz beschrieb ich die Blätter, immer sorgfältig darauf bedacht, dass die Ränder gerade waren und die Zeilenabstände stimmten. Ganz nebenbei lernte ich dabei die Sprüche Salomos kennen. Aus dem Religionsunterricht kannte ich Bibeldrucke, bei denen Anfangsbuchstaben von Arabesken umrankt waren. Natürlich versuchte ich das nachzuahmen. So sprossen Blätter und Blüten auf dem Papier, die ich mit Buntstiften bemalte und mit Tinte nachzeichnete. Keine meiner Seiten befriedigte mich. Krumm und unvollkommen tanzten meine Buchstaben übers Blatt, die Zeilenabstände schwankten und an manchen Absätzen schien das ganze Textbild verschoben.

Meine Mutter beobachtete mich aufmerksam. Manchmal schüttelte sie dabei lächelnd den Kopf. Sie saß vor ihrer Nähmaschine und ließ Stoff unter dem Nähfuß durchrattern. Wie so oft schneiderte sie Faschingskostüme für die Narrenzunft. Das brachte ihr ein wenig Kleingeld ein, um die Rechnungen zu bezahlen. Bis heute fühle ich mich in meine Kindheit zurückversetzt, wenn ich Nähmaschinen höre. Dann sehe ich mich am Tisch sitzen, eine Tube Uhu in der Hand, und gerissene DIN A 5 Blätter verkleben. Mein Buchprojekt nahm Konturen an - ich war stolz. Geschrieben hatte ich zwar wenig und mir war kaum daran gelegen, eigene Gedanken zu fassen. Aber ich hatte mich mit einer Sache beschäftigt, die mich aufrichtig faszinierte. Bücher waren etwas Wundervolles! Am Ende presste ich meine Seiten zwischen Pappdeckel, trug eine dicke Klebeschicht am Buchrücken auf und tunkte drei Wollfäden in den Kleber. Das war meine Version einer „Fadenheftung“ - eine kindlich charmante Version, die manchen Erwachsenen in der Siedlung gut gefiel. Deshalb gelang es mir am Ende sogar, mein Werk an einen alten Mann aus der Nachbarschaft zu verkaufen. An den Preis kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich nehme aber an, dass es für ein „Zehnereis“ gereicht hat - zehn Pfennige waren damals nämlich eine übliche Bezahlung für Kinder. Was aus meinem Erstling geworden ist, weiß ich nicht. Aber wahrscheinlich existiert das Büchlein ebenso lange nicht mehr wie mein Käufer.